Ist das Plattdeutsche eine eigene Sprache oder bloß ein Dialekt?
Das ist eine gute und eine schwierige Frage, über die sich schon viele kluge Leute den Kopf zerbrochen haben. Was macht eine Sprache zu einer Sprache?
Es gibt den Spruch „a shprakh iz a dialekt mit an armey un flot“, der vom jiddischen Linguisten Max Weinreich verbreitet wurde. Ein Dialekt würde also in vielen Fällen erst dadurch zur Sprache, dass es einen Staat gibt, der den Dialekt mit militärischem und/oder politischem Druck gegen andere Dialekte durchzusetzen in der Lage wäre.
Das ist eine Eigenschaft die dem Plattdeutschen in der Gegenwart völlig fehlt. Allerdings hat das Plattdeutsche in seiner älteren Form des Mittelniederdeutschen als Sprache des Hansebundes durchaus einmal eine große politische Macht gehabt, die sich über große Teile des nördlichen Europas erstreckte.
Wenn wir rein sprachliche Kriterien für die Frage heranziehen, dann ist die gegenseitige Verständlichkeit das wichtigste Kriterium. Wer nur Deutsch kann, versteht definitiv nichts, wenn französisch gesprochen wird. Deutsch und Französisch sind also zwei eigene Sprachen. Das ist beim Plattdeutschen schwieriger. Plattdeutsche verstehen hochdeutsch und Hochdeutsche haben realistische Chancen, Plattdeutsch zu verstehen (was je nach Umfang der vorherigen Kontakte und des persönlichen Spracheinfühlungsvermögens der einzelnen Person von „problemlos“ bis „gar nicht“ reicht).
Mitunter erlebt man, dass Süddeutsche die Sprache des Ohnsorg-Theaters im Fernsehen für die Sprache Norddeutschlands halten und denken, sie würden die Norddeutschen leicht verstehen. Und plötzlich fallen sie aus allen Wolken, wenn sie einen plattdeutschen Muttersprachler sprechen hören und kein Wort mehr verstehen.
Es ist auch immer die Frage, wo die Grenze gezogen wird, ab der ein schwer zu verstehender Dialekt als Sprache anerkannt wird. Denn das Niederländische ist aus hochdeutscher Sicht ungefähr genauso schwer oder leicht zu verstehen wie das Plattdeutsche. Aber niemand zweifelt daran, dass Niederländisch eine Sprache ist. Wo wir wieder beim obigen Satz von Max Weinreich wären.
Ein Problem bei der Beurteilung ist, dass in Deutschland jeder Hochdeutsch in der Schule lernt. Deswegen ist es leicht, zu denken, dass Plattdeutsch und Hochdeutsch gegenseitig verständlich sind. Hier lohnt sich ein Blick auf die plattdeutschen Sprachinseln. Es gibt durchaus auch heute noch Menschen, die als Kinder (platt)deutscher Einwanderer irgendwo in Iowa aufgewachsen sind und Plattdeutsch und Englisch beherrschen, aber niemals Hochdeutsch gelernt haben. Die Erfahrung zeigt, dass für solche Menschen Hochdeutsch keineswegs leicht verständlich ist, sondern vielmehr den Charakter einer komplett fremden Sprache hat.
Die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls hat die Frage „Dialekt oder Sprache“ für sich ganz offiziell entschieden: am 16. September 1998 hat Deutschland die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ratifiziert und dabei dem Plattdeutschen erhöhte Schutzrechte zugesprochen. Da die Charta das Wort „Sprache“ bereits im Namen trägt, ist damit implizit klar, dass die Bundesrepublik dem Plattdeutschen Sprachstatus beimisst.
Zum Abschluss ein Beitrag zu dieser Frage, der bereits über 200 Jahre alt ist. Karl Philipp Moritz schrieb 1792 folgendes in Vom Unterschiede des Akkusativs und Dativs oder des mich und mir, sie und ihnen:
Lassen Sie mich nun den märkischen Dialekt erstlich gegen den niedersächsischen halten, um ihn mit demselben zu vergleichen. Jemehr der Dialekt, oder die gemeine Volkssprache, in einer Provinz, von der verfeinerten oder Büchersprache, verschieden ist, desto besser ist es für die letztere, desto reiner und richtiger wird dieselbe gesprochen, weil dasjenige, was sich, aus dem Dialekt, in dieselbe einmischen könnte, viel zu auffallend seyn würde, als daß man es nicht sogleich, als fehlerhaft, aus derselben wieder verwerfen sollte. Das ist nun der Fall in Ansehung des niedersächsischen Dialekts; dieser kann sich, wegen seiner großen Verschiedenheit von der verfeinerten oder Büchersprache, nicht so leicht in dieselbe einschleichen; daher spricht man auch z. B. in Hannover und Braunschweig, das Hochdeutsche weit reiner und besser als in Berlin oder Leipzig. Sobald man hochdeutsch reden will, so wird man sich dort nie unterstehen, z. B. ohch anstatt auch zu sagen, welches hier alle Augenblick geschiehet; auch wird man niemals das d und t, b und p miteinander verwechseln, welches sich in Leipzig selbst der Gelehrte mit vieler Mühe kaum abgewöhnen kann, und sich nur selten einmal diese Mühe nimmt. In Niedersachsen betrachtet man das Hochdeutsche und Platdeutsche als zweierlei Sprachen. Wenn man daher, im vertraulichen Umgange einmal platdeutsch reden will, so redet man ganz platdeutsch, ohne vom Hochdeutschen etwas einzumischen: eben so macht man es aber auch umgekehrt, wenn man hochdeutsch spricht; dann erlaubt man sich keinen platdeutschen Ausdruck anders, als im Scherz, und redet die einmal angenommene Büchersprache grammatisch richtig. So wie man es nun in Niedersachsen, bei jedem Menschen, der auf Erziehung Anspruch macht, für unanständig oder lächerlich hält, wenn er noch platdeutsche Wörter in sein Hochdeutsch mischt, eben so hält es dort auch das gemeine Volk für Affektation, wenn einer sein altes ächtes Platdeutsch mit hochdeutschen Wörtern ausstaffieren will, und ein jeder, der es thut, macht sich dadurch, sowohl bei seines Gleichen, als bei andern lächerlich. Daher kömmt es, daß Hochdeutsch und Platdeutsch dort immer von einander abgesondert bleiben; hier hingegen fließt beides beständig ineinander, weil der hiesige Dialekt mit der verfeinerten Sprache eine größere Aehnlichkeit hat, und also die Fehler, welche sich aus dem Dialekt in dieselbe einschleichen, schon nicht mehr so auffallend sind.